Erstellt von Carolin Bernhofer
Heinrich von Kleist: „Ueber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.“ http://de.wikisource.org/wiki/Ueber_die_allm%C3%A4hliche_Verfertigung_der_Gedanken_beim_Reden
Vladimir A. Uspenskij: „Die revolutionäre Bedeutung von A.A. Markovs Untersuchungen zur Buchstabenalternierung in literarischen Texten“ uspenskij2007
Bei der Besprechung des Textes von Vladimir A. Uspenskij „Die revolutionäre Bedeutung von A.A. Markovs Untersuchungen zur Buchstabenalternierung in literarischen Texten“ fand Heinrich von Kleists im Jahre 1806 verfasster Aufsatz „Ueber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.“ Erwähnung. Kleist präsentiert in diesem Text eine Theorie der Gedankenentwicklung, die von einer Struktur des einander Bedingens der Worte im Fluss einer Rede ausgeht, die stark an die Theorie der Markovketten denken lässt.
Wiederholend sei eine Definition der Markovkette wie von Uspenskij beschrieben angeführt: „Als Markovkette wird eine Folge von aufeinander folgenden Ereignissen bezeichnet, in der die Wahrscheinlichkeit jedes Ereignisses durch das ihm unmittelbar vorangehende Ereignis bestimmt wird.“ (Uspenskij, S.93) In diesem Sinne fasste Markov Sprache bzw. Text als eine Kette von Buchstabenereignissen auf, wobei die Art eines jeden Buchstabens jeweils von der des ihm voranstehenden beeinflusst wurde. Kleist wiederum beginnt seinen Aufsatz mit der praktischen Feststellung, dass das Sprechen von Dingen, die man noch nicht versteht, ein Prozess des Sich-selbst-belehrens sein kann, um im Zuge der Erläuterung dieser Feststellung allgemein seine Theorie zur Verfertigung eines Gedankens beim Reden darzulegen.
Nach Kleist kommt es oft vor, dass sich jemand dazu verleiten lässt, den Anfang einer Rede zu machen, sei es auch durch äußere, zwingende Umstände, und diesen Beginn „auf gutes Glück hin“ wagt, da er vom eigentlichen Inhalt der Rede noch keine konkrete Idee hat.
„Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüth, während die Rede fortschreitet, in der Nothwendigkeit, dem Anfang nun auch – ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulirte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wol eine Apposition, wo sie nicht nöthig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.“ Für Kleist sind es die Umstände und die daraus resultierende Gemütserregung, die dem Redner die nötige Gedankenfülle zur Hervorbringung (was gleichsam deren Erarbeitung ist) seiner Rede bzw. Gedanken verleihen.
Insofern wird Reden als lautes Denken aufgefasst, ein gesprochenes Wort gibt Anregung für die folgenden. Es sehen sowohl Kleist als auch Markov die Sprache, einmal in Form der Rede und bei Markov als schriftlicher Text, als mehr an, als das bloße Mittel zum Ausdruck oder der Fixierung von Sinn. Kleist schreibt, „[d]ie Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites mit ihm parallel fortlaufendes Rad an seiner Axe“ und Markov sieht im schriftlichen Text, von dessen inhaltlichem Sinngehalt abgesehen, „ein selbstständiges Objekt mit seinen eigenen räumlich-geometrischen Charaktereigenschaften“ (Uspenskij, S.99) die entsprechend untersucht werden können.
Die Vergleichbarkeit der Gedanken Kleists und Markovs zur Sprache endet allerdings dort, wo für Markov die eigentliche Motivation dieser Betrachtung erst liegt. Er möchte den schriftlichen Text als Objekt der physikalischen Welt mathematisch auswertbar machen, die ihm zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten analysieren. Die Art der Ordnung, denen Texte unterliegen und die Markov mit seiner Modellierung abbilden konnte, veranschaulicht Uspenskij aus Sicht eines Informatikers. Diesem geht es bei der Aufeinanderfolge von (Sprach-)Signalen und der Erwartung eines nächsten Signals „nicht um eine absolut richtige Vorhersage, sondern um eine Vorhersage von lediglich relativer Präzision“ (Uspenskij, S.96). Insofern zielt die Betrachtung von Text als Markovkette auf eine Berechenbarkeit der Sprache ab, die ihr zunächst eine Ordnung nicht absoluten sondern relativen Charakters unterstellt und schließlich als Berechnungsergebnis sprachlichen Ereignissen gewisse Wahrscheinlichkeitswerte zuordnet bzw. Entropiewerte zuordnet.