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Stundenprotokoll vom 29.04.2013
Vorbereitend für die Veranstaltung am 29. April sollten die Texte Eine Agentur des Kreativen von Till Greite und Zur Sprache im technischen Zeitalter von Walter Höllerer gelesen werden. Im Kontext des Seminares war einleitend vor allem die neue Wissensordnung, die sich mit dem Eintritt in das digitale Zeitalter etablierte, von Interesse. Diese neue Wissensordnung, insbesondere der Paradigmenwechsel innerhalb der Generierung von Wissen, wirkte sich auf die Sprach- und Literaturwissenschaft aus. Laut Max Bense besitzt Literatur keine Wirklichkeit mehr, sondern nur eine Wahrscheinlichkeit.1) Näheres dazu wurde in der nachfolgenden Stunde besprochen.
Infolge der Konfrontation der Sprache mit neuen Kommunikations- und Informationstechnologien zu Beginn des Informationszeitalters änderten sich die technologischen Bedingungen der Sprache. Dadurch bekam die Bedeutung der Sprache eine veränderte Charakteristik und Literaturwissenschaftler wie Walter Höllerer erkannten, dass die Entwicklung der Sprache nicht mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten schien. Sie plädierten daher für neue Techniken innerhalb der Sprachforschung, um neue Begriffe der Sprache und von der Sprache zu entwickeln. Speziell in der Literatur bedeutete dies eine Transformation der literarischen Kategorien des Sprachmaterials, der Autorfunktion und der poetischen Form. Hauptsächlich lag die Transformation der Autorschaft im Fokus dieser Seminarsitzung.
Die Transformation der literarischen Kategorien
Sprachmaterial
Dieser Aspekt wurde nur am Ende der Veranstaltung thematisiert. In weitem Sinne ist unter dieser Kategorie alles das erfassbar, was vorliegt, gemessen und gespeichert werden kann. Die gesprochene Sprache kann seit den 50er Jahren auf Tonband aufgenommen und wiedergegeben werden. Sprache ist somit das Material, das informationstheoretisch behandelt werden kann.
Autorfunktion
Die Entwicklung der Erzählweise reicht vom Autor über das Autorkollektiv zur Agentur. Im Falle des Greite-Textes nimmt die Agentur mit der Gründung des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) Gestalt an.2) Nicht zufällig lehnt sich die Konzeptualisierung des LCB an nordamerikanische Schreibschulen wie dem Black Mountain College an, da die Förderung derartiger Projekte von den Amerikanern speziell in der BRD während des Kalten Krieges aus politischem Kalkül gezielt forciert wurde. Dieser Umstand erklärt unter anderem, weshalb sich große amerikanische Institutionen wie die Ford-Foundation am Projekt LCB engagierten. Mit diesen Aktivitäten verbanden die USA primär die einschlägige pro-westliche Orientierung der (bundes)deutschen Nachkriegsliteratur, die sich innerhalb dieser ideologischen Corsage entfalten sollte. Insofern kann das LCB auch als ein gezielter Versuch der AmerikanerInnen gewertet werden, der statischen Literatur des Kommunismus/Sozialismus in der sowjetischen Besatzungszone in ihrer eigenen Einflusssphäre eine (weitere) Institution der liberalen Literatur unter Berücksichtigung des beginnenden Informationszeitalters entgegen zu stellen. Ohne die Rolle Walter Höllerers als wichtigen Initiator des LCB klein reden zu wollen, muss dennoch die Beteiligung der USA an diesem Projekt deutlich hervor gehoben werden. Die Realität des Kalten Krieges hatte zum Zeitpunkt der Gründung des LCB längst die Literatur erreicht und wie sich noch zeigen wird, lässt sich dieser Umstand auch innerhalb des LCB am Beispiel der imaginären Figur des Dritten nachweisen.
Die Bezeichnung Agentur gründet sich auf das lateinische Wort „agens“, das übersetzt etwa der Handelnde bedeutet. Agenturen bestehen aus bestimmten Infrastrukturen von Netzwerken und Gruppendynamiken, sind wissensförmig und werden ebenso von Wissen formiert. Institutionen haben in der Regel keine Handlungsfähigkeit, im LCB aber sind die SchriftstellerInnen diejenigen, die nur nach vorgegebenen Programmen funktionieren sollen, also passiv im Verband handeln. Die Rolle der AutorInnen wird degradiert durch die neue Aufnahmetechnik im LCB, repräsentiert durch das Objekt des Mikrofons, welches zum ständigen Teilnehmer der Sitzungen und zum Chronisten der Tätigkeiten innerhalb des LCB wird. Im Gegensatz zur Schreibschule der Gruppe 47 wird durch die Verwendung der Aufnahmetechnik eine direkte Kreisförmigkeit der Prozesse innerhalb des LCB erzeugt, da das Feedback hier in Form des lebendigen aufgezeichneten Gesprächs direkt in die Gruppe zurückgekoppelt werden kann. Insofern zeichnet sich die Kreisförmigkeit dadurch aus, dass die elektroakustische Aufzeichnung des Arbeitsprozesses wiederum Teil des fortwährenden Arbeitsprozesses wird. Die mitgeschnittenen Tonaufnahmen werden zurück gespult, abgetippt und die so entstehenden Protokolle stehen den Teilnehmenden zur Verfügung. Damit ist eine kybernetische Feedback-Schleife in das Literaturprojekt eingebaut, die das erworbene und erarbeitete Wissen zum Zirkulieren bringen und Infrastrukturen vorgeben soll. Hierdurch wird auch das eigentlich passive historische Ereignis zum direkten Aktivum für die Gruppenmitglieder und den gesamten Prozess. Meyer-Eppler meint die „Virtuosität“ ginge durch die Möglichkeiten der Nachbearbeitung verloren und mache Platz für einen handwerklichen Prozess.3)
Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Agenturkonzeptionierung des LCB liegt auch in der damaligen Pädagogik begründet, welche die Wettbewerbssituation als förderndes Element kreativen Schaffens interpretierte. Durch den Diskurs, also den Austausch von Informationen soll innerhalb der Agentur die individuelle Kreativität gefördert werden. Generell scheint es, als könne man die Begriffe Kreativität und Information im Arbeitsprozess des LCB miteinander vertauschen, da Kreativität (nach Bense) nichts anderes darstellt, als eine, hier technisch, übertragbare Information. Es existiert demnach ein Zirkulationsprozess zwischen Information und Kreativität. Generell ist die Prozesshaftigkeit signifikant für die Gestalt der Agentur, wobei die Prozesse im LCB offen von statten gehen und keine direkte Trennung zwischen Literatur und Agentur möglich ist. Durch die Prozesshaftigkeit schafft sich die Agentur ihre optimalen Rahmenbedingungen selbst, da die Agenturgruppe eigenständig für die Zunahme von vorhandenen Optionen sorgt.
Technikimmanente Störungen schleichen sich in der Übertragung ein, die die geheime Einflussnahme einer „grauen Eminenz“ auf die Gruppe begünstigen. Es entsteht ein paranoisches Gerücht über einen außenstehenden Lenker des Geschehens. Eine Analogie zur Kryptographie, dem technischen Pendant eines Geheimagenten und dem Kalten Krieg ist hier zu finden. Technisch gesehen kann diese Idee entstehen, da im Rauschen von Schallwellen Signale versteckt sein können, zum Beispiel die, die unbefugte Empfänger aussenden, wenn sie eine Kommunikation abfangen. Die nebenstehende Graphik zeigt ein Kommunikationsmodell aus der Kryptographie von Werner Meyer-Eppler an der Sender, befugter und unbefugter Empfänger beteiligt sind.4)
Poetische Form
Sowie die elektronische Musik ihre Form in Zusammenarbeit mit der neuen Schallforschung entwickeln konnte, bringen neue Techniken der Spracherforschung neue Formen der Sprache und Literatur zustande.